TANNINO - und der Sängerwettstreit

In jener kaum bekannten Gegend des Daswardalandes, da wo die Donnerberge nicht mehr ganz so steil und abweisend in den wunderblauen Himmel ragen, sondern unmerklich in eine sanftbergige Hügellandschaft übergehen - da wo der Wald der singenden Bäume endet, und auch die schlafenden Dschungel nicht weit sind - erstrecken sich - soweit das Auge reicht - die wie mit flauschelweichen Riesenschneeflocken bedeckt scheinenden, tiefgrüngrasigen Pusteblumenfelder.
Sie wellen sich über die flachgestuften Bergterrassen hinab - ziemlich bis an den niedrigstämmigen Waldrand heran. Ein einzeleinsamer Nadelbaum von riesenhaftem Wuchs reckt seine knorrigalte Gestalt über die ihm gegenüber fast nur wie Maulwurfshaufen wirkenden Berghügel.
Er erinnert an ein vergessenes Mammut aus der Altvorderenzeit, mit seinem säulendicken, rotbraunen Stamm, der mit zotteligen, schwärzlich-grünen Moosbüscheln behängt ist.
Und ein bisschen stimmt das ja auch - denn er ist der letzte Vorfahr jener hochwüchsigen Tannenbäume, welche heutzutage nur noch in der Umgebung des geschützten Tals wachsen. Zweifellos ähnelt er ihnen - nur das bei ihm alles viel gewaltiger und größer gewachsen ist.
Oftmals beherbergt dieser so seltsam anmutende Nadelbaum weitgereiste Gäste unter seinen weit gespannten Ästen - Vögel und andere Flugwesen - die meistens Neuigkeiten aus den anderen Landstrichen mitbringen.
Seinen vielrippigen Wurzelfuss hat sich eine der sonderbaren, und mittlerweile selten gewordenen, Bergzikaden als Wohnstatt erkoren. Aus den rötlich schwarzen Borkenstückchen des Baums hat sie sich dort eine Art Häuschen errichtet - trocken und luftig - mit weitem Blick über die wie malerisch hingetupfelten Pusteblumenfelder.
Dort sind die Hummelleute zu hause. Sie sind ein gar seltsames Volk -.
Ihre hellbraunen, pummeligen Gestalten mit den blassschwarzen
Querstreifen sieht man tagsüber in ständiger Bewegung. Sie finden immer etwas zu tun auf den Feldern - und manchmal fliegen sie sogar bis hin zum nichtfernen Wald. So tönt beständig ihr brummelndes Summen ohn' Unterlass durch die sonnenbeschienene Stille.
Die Hummelleute müssen immer etwas erledigen - oder bilden sich dies zumindest ein. Immer sind sie in Eile, immer hasten sie herum.
Nur gelegentlich gönnen sie sich an den Abenden Zeit für ihre Zerstreuungen und feiern ihre Feste. Dann treffen sie sich alle am Fuße des Riesenbaumes, wo sich seit Generationen ihr Festplatz befindet, und lauschen den kaum zu glaubenden Geschichten und Liedern aus den fernen, nie gesehenen Landen. Viele jener alten Weisen und Gesänge waren der Zikade wohl bekannt, und mit ihrer sanftwohlklingenden Stimme verstand sie diese gar eindrucksvoll vorzutragen.
Zudem besaß der fremde Gast eine sonderbar geformte Flöte, welche aus dem magischen Schilfrohr vom See der verlorenen Träume gefertigt war, auf der er bisweilen spielte.
So hatten die Hummelleute nichts dagegen einzuwenden, dass sich die Bergzikade dort ihr Häuschen baute, sie halfen ihr sogar dabei. Weil sie so allein am einsamen Nadeltannenbaum wohnte, nannten die Hummeln ihren Wohngast fortan - "Tannino".
Vieles von Tanninos Tun - oder Nichtstun - war den hastigen Hummelleuten schlichtweg unverständlich. Sie konnten es einfach nicht verstehen, wie jemand einen halben, langen Tag der reglosen Betrachtung einiger Blumenstengel widmen konnte, und die andere Tageshälfte damit verbrachte, scheinbar ohne Ziel durch die Pusteblumenfelder zu streifen.
Nicht, dass Tannino nichts von der Arbeit verstanden hätte - er war geschickt und fingerfertig, wenn er manchmal seinen Gastgebern bei deren Verrichtungen zur Hand ging.
Aber er war eben nicht wie sie - er war anders.
Trotzdem waren die Hummelleute stolz auf "ihren" Tannino -
denn landauf, landab rühmte man seine Sangeskunst. Es konnte sogar vorkommen, dass die Hummeln in ihrem eilhatzigen Tun innehielten, wenn unverhofft seine träumerischen Flötentöne über die Felder schwebten - und sei's auch nur für eine klitzekleine Weile...